Soll ich meine Mutter, den Großvater, die Schwester, den Freund vor Einsamkeit verglühen lassen oder mich doch hin wagen? Was, wenn ich mich selbst schon völlig auflöse in emotionalen Talfahrten, gespeist aus mangelnder menschlicher Nähe und katastrophalen Zukunftsszenarien in meinem Kopf? Wie soll ich die Angst managen, die zwischen prospektiven Schuldgefühlen, falls ich zum Überträger werde und, falls ich selbst betroffen bin, Horrorschmerzen bei einem üblen Verlauf, hin und her pendelt?
Die letzten Wochen, seit der Ausgangsbeschränkung wegen Corona, haben uns schrittweise in völlig neue Verhaltensmuster katapultiert, die davor noch undenkbar gewesen wären: social distancing, möglichst wenig raus gehen, Abstand halten beim Einkaufen, Gesichtsmasken, Desinfektionsmittel, Händewaschen…. ihr wisst schon…. Alles das bestimmt nun unseren Alltag!
Wir sind als erste Welt Menschen extrem viel Freiheit gewohnt, die vielen von uns jetzt erst so richtig bewusst wird. Wir waren bis vor kurzem FREI zu reisen, hinzugehen, wohin und mit wem wir wollten, zu wählen, wie wir leben wollen & was wir leben wollen. Ich behaupte ja, dass die meisten gar nicht wirklich gewahr waren, WIE frei sie sind, war es doch allzu selbstverständlich.
Vielmehr glaube ich, dass kaum jemand die Verantwortung, die mit der vielen Freiheit einherging, bewusst wahrgenommen, geschweige denn gelebt hat und statt dessen einfach mit dem Strom geschwommen ist. Der Strom der Leistungsgesellschaft, die Materielles über alles stellt, wo das Prinzip „schneller, höher, stärker“ gilt – wer gut verdient, hat es geschafft, der ist jemand. Und gut verdienen wird nur jemand, der mega ausgebildet ist, am besten AkademikerInnen (so die Idee). Dieser Strom hat einen derartigen Sog erzeugt, dass der Aspekt der Eigenverantwortung, der uns jetzt gut täte, nämlich die Selbstbestimmung, vielerorts nie wirklich zum Erblühen kam. Statt dessen erzeugte er Druck, Idealen hinterher zu hecheln. Was für eine Anstrengung!
Nun kommt der Treppenwitz der Geschichte und führt uns vor Augen, dass wir in so vielem falsch lagen. Dass wir echt viel Energie verschwendet haben, für Dinge, die aus heutiger Sicht bedeutungslos sind, statt uns selbst gut kennenzulernen. Das ist nämlich die Grundvoraussetzung für selbstbestimmtes, eigenverantwortliches Handeln: zu wissen, was man selbst für gut und richtig hält, wer man ist und welche Werte man leben will, zu wissen, dass man ein fühlendes Wesen ist und mit dem Verstand ausbalancieren kann, wenn Emotionen heftig werden. Was ich hier beschreibe definiert Erwachsensein.
Kurz gesagt, es braucht eine echt gute Verbindung zu sich selbst um die eingangs gestellte Fragen für sich selbst beantworten zu können. Erst wenn ich gut mit mir verbunden bin, kann ich Antworten in mir finden, eine Entscheidung treffen und eine selbstbestimmte Handlung setzen, die abgestimmt ist auf meine persönlichen Rahmenbedingungen.
Beispiel: Wenn ich mit meiner Kleinfamilie bereits 3 Wochen zu Hause bin, alle Sicherheitsvorschriften eingehalten habe und wir immer noch alle gesund sind, dann könnte ich in Erwägung ziehen, die mittlerweile depressiv verstimmte Großmutter, die ebenfalls in 3 Wochen Isolation gesund geblieben ist, zu besuchen. Sowas meine ich.
Ich animiere hiermit keineswegs zur Anarchie oder völligem Außerachtlassen von Hygienevorschriften, auch will ich niemanden zu Corona-Parties motivieren. Mir geht es darum, den eigenen Maßstab anzusetzen, zusätzlich zu dem, was momentan von außen an Reglementierungen vorgegeben wird.
Du wirst dich besser fühlen, wenn du etwas Selbstbestimmung (zurück) erlangst. Damit kannst du nämlich Einfluss nehmen, auf das, was in deinem Wirkungsradius passiert. Und Einfluss ist der Gegenpol zur Ohnmacht, die die Freundin der Angst ist.
Sag Bescheid, wenn du Hilfe brauchst - Hier kannst du direkt einen Termin buchen.
コメント